Das Schloss

Aus dem Tagebuch des Landvermessers:

Gestern war der Kandidat auf dem Schloss.
Der Kandidat für das Amt des Herrschers, der die beiden Schlossflügel bislang nicht in Augenschein genommen hatte, wurde mehrere Stunden durch die Säle geführt.

Dann reiste der Kandidat wieder ab.

Das aktuelle große Thema, das auf allen Fluren des Schlosses hinter vorgehaltener Hand diskutiert wird, hatte bei seinem Besuch wohl kaum eine Rolle gespielt: der fluchtartige Abgang des Direktors des rechten Schlossflügels. Der Direktor wird sich, wie man im Dorfe hört, kurzfristig neuen Aufgaben zuwenden.

Eine Einschätzung des ungewöhnlichen Vorgangs durch den Kandidaten wäre aufschlussreich gewesen; wird er doch eventuell mit der Neubesetzung des Postens des Direktors des rechten Schlossflügels im nächsten Jahr zu tun haben. Bis dahin wird der rechte Schlossflügel kommissarisch vom Unterdirektor geleitet, dem Direktor-Stellvertreter. Nach Recherchen des Landvermessers gibt es etliche Kenner der komplexen Materie, die dem verbindlichen Unterdirektor, der im Dorfe wohnt, das Direktorat zutrauen. Der Unterdirektor verträgt sich gut mit dem Leitenden Direktor des linken Flügels des Schlosses.

Und er ist sich auch nicht zu schade, in der Kulturszene des Dorfes präsent zu sein.

Der Landvermesser war überrascht und perplex, als er vom Weggang des Direktors des rechten Schlossflügels erfuhr. Kurzfristig war für Donnerstagmorgen im großen Saal des Schlosses eine Gesindeversammlung anberaumt worden, in der das Schlossgesinde vom Leitenden Direktor des linken Schlossflügels über die Demission informiert wurde. Und zwar sehr knapp. „Unmissverständlich“, so ein Mann aus dem Gesinde, wurde deutlich gemacht, dass Fragen oder Diskussionsbeiträge nicht erwünscht seien.

In Wirklichkeit munkelte es schon länger in den Fluren des Schlosses. Von Anfang an krachte es zwischen den beiden Direktoren. Einer vom Gesinde: „Die Spannungen waren dramatisch!“ Für das Gesinde kam das Ende alles andere als überraschend.

Möglicherweise spielt noch etwas anderes eine Rolle – ohne dass dafür eine Bestätigung zu erhalten war. Auch bei höher gestellten Persönlichkeiten, war man nicht im Bilde.

Man wird die Wahrheit wohl noch nicht erfahren. Alle schotten sich geradezu ängstlich ab. Aus den Gemächern des Herrschers wurde jede Nachfrage abgewehrt. Kein Hofschranze äußerte sich.

Das Dorf bleibt unwissend.

(Admin: frei nach SN und Franz Kafka)

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3 Gedanken zu „Das Schloss“

  1. Ich bin beeindruckt; Kafkaeske. Das hatte ich noch nicht gehört. Traditionell war immer nur von der Vogelinsel als Dependenz der örtlichen Anstalt die Rede. Früher dort angestellte Persönlichkeiten in leitender Funktion haben übrigens unter Pseudonymen Lyrik veröffentlichen müssen, um ihrer professionellen Erfahrungen überleben zu können. Jemand, der das auch schon einmal nur noch durch die Künstlerbrille sehen konnte, war/ist Heino Jäger:
    Hört Euch doch mal das Portrait an, welches der legendäre Künstler hinterlassen hat! Zum Högen, wenns nicht so ernst wäre, „auf der Insel“ oder „im Schloss“!

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  2. Ein weiteres therapeutisches Produkt eines Kunstschaffenden aus diesem Zusammenhang ist bislang für die Uneingeweihten nahezu unenträtselt verblieben. Nur wirklichen Insideren ist klar, was der Song von Frank Zander mit der Vogelinsel zu tun hat. Ich kenne Frank Zander nicht persönlich und habe Heino Jäger auch nicht mehr kennenlernen können. Ich würde doch aber mal gerne wissen, wer auf unserem Dorf da die Beziehungen genauer verkarten kann?
    http://www.youtube.com/watch?v=tm5s6pko148

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