Eine dieser Patientinnen ist Anna Ehmke, meine Urgroßmutter.
Man kann ihren letzten Weg heute nachgehen. Man beginnt bei Kfz-Service Funk, einer Autowerkstatt. Die St. Jürgener Straße führt noch ein paar Meter hinauf, dann geht es immer bergab, den Gallberg hinunter.Vorbei an Backsteinhäusern mit Satteldach und Gärtchen, Dreißigerjahre-Stil, sie müssen damals neu gewesen sein, der Stolz ihrer Besitzer. Vorbei an der Schule mit dem weiten Pausenhof, noch ganz still und leer an jenem Morgen,
bis zu den ersten Geschäften, das Puppengeschäft war schon da, „100 Jahre“ steht heute im Fenster.
Die ganze Zeit auf diesem Weg blickt man auf den Dom, der in Schleswig alles überragt, er kommt immer näher, je weiter man den Gallberg hinabschreitet. Einige der Patienten ahnten, was mit ihnen geschehen würde. Es gab Gerüchte. Möglich, dass sie auf den Dom sahen, dass sie hofften, es würde ein Zeichen des Widerstands geben, man konnte von dort ja alles sehen. Vom Dom kam kein Zeichen. Unten, am Kreisbahnhof, wartete schon der Zug nach Meseritz, in den Tod. Das Bahnhofsgebäude von damals steht noch, ein zweistöckiger Gründerzeitbau mit wuchtigen Türmen links und rechts, aufwendig restauriert. Im Erdgeschoss gibt es ein Restaurant, „Gleis 9“. Das Gebäude blicke „auf eine bewegte Geschichte zurück“, erklärt ein Schild… Admin: In „Reminiszenzen – Jugenderinnerungen an Schleswig – 1943 bis 1960“ erinnert sich Gerhard Kahlke: „…Wir wohnten seinerzeit im I. Stock des Hauses Gallberg 2 (also bei Hannes Hagge, dem späteren Landrat und MdB). Eines Nachts, es begann gerade hell zu werden, wurde ich von einem Getrappel und Geklapper wach, hervorgerufen von einer Vielzahl von Holzsohlen. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich Kolonnen von Menschen den Gallberg herkommend in die Lange Straße weiterziehen. Ihr Ziel konnte nur den Kreisbahnhof sein. Und sie kamen, auch das war eindeutig, von den Landesheilanstalten…“
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