Der Mord, von dem wir nie geredet haben

Im Wochendendjournal der Kieler Nachrichten vom 3./4. September 2016 steht als „Sonntagsthema“ eine Geschichte, die als Titel die Überschrift dieses Eintrags hat. Thorsten Fuchs berichtet dort, wie er zufällig entdeckt hat, dass seine Kieler Urgroßmutter, Anna Ehmke, von den Nazis ermordet worden ist. Hier gebe ich jetzt einen Schleswig betreffenden Auszug aus der Geschichte und ein Foto (oben) wieder. Die anderen Fotos sind aus dem Bestand des „Klassentreffens“:

…als die Kieler Uniklinik ausgebombt wird, braucht man Platz für die Patienten – und kommt schnell auf Schleswig. Die Irren sollen Platz machen. Am frühen Morgen des 14. September 1944 werden 700 Patienten in einer Art Todesmarsch von der Klinik zum Kreisbahnhof geführt, quer durch die Stadt. Sie tragen Holzpantinen, das Klappern auf dem Pflaster weckt die Anwohner, viele blicken durchs Fenster auf den gespenstischen Zug, Menschen in Hemden, sie gehen langsam.

Eine dieser Patientinnen ist Anna Ehmke, meine Urgroßmutter.

Man kann ihren letzten Weg heute nachgehen. Man beginnt bei Kfz-Service Funk, einer Autowerkstatt. Die St. Jürgener Straße führt noch ein paar Meter hinauf, dann geht es immer bergab, den Gallberg hinunter.

Vorbei an Backsteinhäusern mit Satteldach und Gärtchen, Dreißigerjahre-Stil, sie müssen damals neu gewesen sein, der Stolz ihrer Besitzer. Vorbei an der Schule mit dem weiten Pausenhof, noch ganz still und leer an jenem Morgen,

bis zu den ersten Geschäften, das Puppengeschäft war schon da, „100 Jahre“ steht heute im Fenster.

Die ganze Zeit auf diesem Weg blickt man auf den Dom, der in Schleswig alles überragt, er kommt immer näher, je weiter man den Gallberg hinabschreitet. Einige der Patienten ahnten, was mit ihnen geschehen würde. Es gab Gerüchte. Möglich, dass sie auf den Dom sahen, dass sie hofften, es würde ein Zeichen des Widerstands geben, man konnte von dort ja alles sehen. Vom Dom kam kein Zeichen.

Unten, am Kreisbahnhof, wartete schon der Zug nach Meseritz, in den Tod. Das Bahnhofsgebäude von damals steht noch, ein zweistöckiger Gründerzeitbau mit wuchtigen Türmen links und rechts, aufwendig restauriert. Im Erdgeschoss gibt es ein Restaurant, „Gleis 9“. Das Gebäude blicke „auf eine bewegte Geschichte zurück“, erklärt ein Schild…

Admin: In „Reminiszenzen – Jugenderinnerungen an Schleswig – 1943 bis 1960“ erinnert sich Gerhard Kahlke: „…Wir wohnten seinerzeit im I. Stock des Hauses Gallberg 2 (also bei Hannes Hagge, dem späteren Landrat und MdB). Eines Nachts, es begann gerade hell zu werden, wurde ich von einem Getrappel und Geklapper wach, hervorgerufen von einer Vielzahl von Holzsohlen. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich Kolonnen von Menschen den Gallberg herkommend in die Lange Straße weiterziehen. Ihr Ziel konnte nur den Kreisbahnhof sein. Und sie kamen, auch das war eindeutig, von den Landesheilanstalten…“

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